„Zäh wie Leder“: Die Legende von der sauberen Wehrmacht
Dass die deutsche Wehrmacht, dass „der einfache Soldat“ an der Vernichtung der europäischen Juden maßgeblich beteiligt gewesen war, daran bestand in der historischen Forschung international kein Zweifel – seit den 60er Jahren. Nicht so in der deutschen Gesellschaft. Weite Teile und nicht nur die „alten Kameraden“ hatten die Legende von der sauberen Wehrmacht verinnerlicht. Diese wurde spätestens während der Nürnberger Prozesse gestrickt. Militärführer kreierten das Märchen als Verteidigungsstrategie. Für den Holocaust sei die SS verantwortlich gewesen. Der einfache Soldat habe einen „Normalkrieg“ geführt. [1]
Die Zählebigkeit dieser Legende offenbarte in den Neunzigern eine Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Anhand von Privatfotografie, von deutschen Kriegsverbrechen, die Wehrmachtssoldaten in Osteuropa festgehalten hatten, sollte bloß ein „Kapitel Zeitgeschichte dokumentiert“ werden. Neue Erkenntnisse gab es keine. Doch dann wurde die Ausstellung selbst ein Dokument der Zeitgeschichte.[2]
Denn die Wanderausstellung, die zwischen 1995 und 1999 in 34 Städten Station machte, löste 50 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs, die bis dahin längste und wohl intensivste vergangenheitspolitische NS-Kontroverse in der Bundesrepublik aus. Begleitet von Massenprotesten und einem Bombenanschlag. Sie übertraf in Dauer und Intensität sowohl die Goldhagen-Debatte, als auch den Historikerstreit.[3]
Kontroversenverlauf
Als die Ausstellung 1997 München erreicht hatte, zeichnete sich Peter Gauweiler, stellvertretend für seine CSU und den harten Kern konservativer Kritiker, durch fundamentale wie medienwirksame Opposition aus.[4] Lokalzeitungen schalteten Anzeigen gegen die Ausstellung. Im Bayernkurier erschien ein Kommentar, der als Vorbote der folgenden Polemik zu milde bewertet scheint, in dem die „Wehrmachtsausstellung“ als „linker Vernichtungsfeldzug gegen das deutsche Volk“ diffamiert wird, in der überdies die „Verbrechen des Sozialismus“ verschwiegen würden.[5]
Allem voran Gauweilers Tiraden, in denen er den Genozid an den Juden zur Bagatelle werden ließ — etwa als er in einer Polemik gegen den Institutsleiter die Opfer der Nationalsozialisten in eine Kategorie mit denen reihte, die an den Folgen des Tabakkonsums aus dem Hause Reemtsma gestorben sind[6] — beförderten die Ausstellung unfreiwillig zum nationalen Thema. Die Staatsanwaltschaft München I eröffnete überdies ein erstaunliches Verfahren gegen die Ausstellungsinitiatoren u.a. wegen übler Nachrede und Volksverhetzung.[7] Es schlossen sich bis dahin ungesehene Großaufmärsche von bis zu 5000 Neo- und Altnazis in München und zwei Debatten im Bundestag an. Am Saarbrückener Ausstellungsort verübten Ausstellungsgegner später sogar einen Bombenanschlag.
Auf die Wirkungsmacht der Ausstellung hatte „München“ als Ablehnungshöhepunkt und mit bundesweitem wie internationalem Medienecho katalysatorischen Effekt. Denn im Anschluss schienen sich die städtischen Träger mit ihren Begleitprogrammen überbieten zu wollen. Spätestens an diesem Punkt, so Hannes Heer, verantwortlich für die inhaltliche Gesamtleitung, im Rückblick, habe sich die Diskursrichtung geändert: gänzlich entfernt von einer wissenschaftlichen Diskussion, hin zu einem Prozess der „kollektive(n) Selbstverständigung über den mit Beteiligung und Wissen von Millionen Deutschen stattgefundenen Völkermord im Schatten des Krieges.“[8] Das akademische, wurde zunehmend durch das politische Argument ersetzt,[9] nachdem der Diskurs sämtlichen Gesellschaftsebenen durchdrungen hatte — von der Familie bis zum Parlament.
Positionen
In der bundesdeutschen Debatte formierte sich eine wachsende Gegnerschaft, die in ihrer Kritik an der Ausstellung mit den stets gleichen Argumenten arbeitete. Zum einen würden die Ausstellungsmacher, beginnend mit der Titelformulierung „Verbrechen der Wehrmacht“, eine Generalisierungs- und Diffamierungskampagne betreiben. Die Wehrmacht werde insgesamt als „Verbrecherorganisation“ gezeigt.[10] Dieser Vorwurf blieb und wuchs, allen Bekundungen der Ausstellungsmacher zum Trotz. Stets betonten jene, exemplarisch drei Kriegsschauplätze zu thematisieren: Serbien, Weißrussland und die Route der 6. Armee. Den Anspruch, die Wehrmacht insgesamt untersucht zu haben, erhob freilich niemand. Die Initiatoren beabsichtigten eben „kein verspätetes und pauschales Urteil über eine ganze Generation ehemaliger Soldaten [zu] fällen“.[11] Plakativ und falsch wie er ist, etablierte sich „Wehrmachtsausstellung“ als Kurztitel in der Öffentlichkeit[12] — den Generalisierungsvorwurf zu entkräften half er freilich nicht. Auch zahlreiche Versuche der Ausstellungsmacher, in Interviews und Pressekonferenzen die Missverständnisse auszuräumen, blieben weitgehend wirkungslos.[13]
Der Pauschalisierungsvorwurf wurde in der Mitte des Jahres 1998 dann von der Kritik an der Korrektheit der Bildunterschriften überschattet.[14] Die Verwendung der Fotos wurde gar als Akt der politisch motivierten Fälschung angegriffen. Ein wissenschaftlicher Antrieb für derartige Vorwürfe darf in vielen Fällen angezweifelt werden.[15] Doch verhalfen junge Wissenschaftler — zuvörderst der deutsch-polnische Historiker Bogdan Musial[16] — den Fundamentalkritikern zur Legitimation ihrer Fälschungsvorwürfe. Musial war durch eigene Archivforschung überzeugt, dass Fotos zum Teil falsch zugeordnet worden waren. Dargestellte wären nicht Opfer der Wehrmacht, sondern des sowjetischen Geheimdienstes geworden. Handelte es sich in Relation zur Gesamtheit der Exponate auch um wenige Exemplare, wuchs doch ein Glaubwürdigkeitsproblem heran, das Differenzierung in der Kritik verdrängte[17], und das letztlich ein Moratorium und die Überarbeitung des Projekts erzwingen sollte.[18]
Bis dahin hatten die erste Ausstellung rund 800.000 Besucher gesehen.[19] Die wider Erwarten dauerhafte, intensive und bisweilen hochemotional geführte Debatte offenbarte unmissverständlich, dass die Nachkriegskonstruktion der Legende von der „sauberen Wehrmacht“, erst durch die Ausstellung — inklusive medialer Verarbeitung — breit in der deutschen Gesellschaft reflektiert wurde, und dass vorherige wissenschaftliche Arbeiten dazu nicht in der Lage gewesen waren.[20] Insbesondere das Kapitel über die 6. Armee traf einen empfindlichen erinnerungspolitischen Nerv.[21] Denn diese war es, die in Stalingrad aufgerieben, und mithilfe der NS-Propaganda mit der Zuschreibung „Opfergang“ im kollektiven Geschichtsbewusstsein tradiert worden war. Nun wurde gezeigt, dass diese, nun ja, „von Hitler verratenen Opfer“, auf ihrem Weg gen Stalingrad ein Viertel bis Fünftel der Bevölkerungen etwa in Weißrussland ermordet hatte.
[1] Greiner, Bernd; Heer, Hannes: Einleitung, in: Eine Ausstellung und ihre Folgen. Zur Rezeption der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“. Hamburg 1999, S. 13.
[2] Bartov, Omer u.a.: Bericht der Kommission zur Überprüfung der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“. Frankfurt a.M. 2000, S. 81. (Als PDF auf http://www.his-online.de)
[3]Thamer, Hans-Ulrich: Vom Tabubruch zur Historisierung? Die Auseinandersetzung um die „Wehrmachtsausstellung“, in: Sabrow, Martin; Jessen, Ralph; Grosse Kracht, Klaus (Hg.): Zeitgeschichte als Streitgeschichte. München 2003, S. 171.
[4] Greiner, Bernd: Bruch-Stücke. Sechs westdeutsche Beobachtungen nebst unfertigen Deutungen, in: Eine Ausstellung und ihre Folgen. Zur Rezeption der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“. Hamburg 1999, S. 18.
[5] Wie Deutsche diffamiert werden, von Florian Sturmfall, in: Bayernkurier, 22.02.1997.
[6] Greiner: Bruch-Stücke, S. 45.
[7]Prantl, Heribert: Was ist Erinnerung?, in Ders. (Hg.): Wehrmachtsverbrechen. Eine deutsche Kontroverse. Hamburg 1997, S. 13.
[8]Heer, Hannes: Die letzte Schlacht der alten Soldaten: Wie die Ausstellung über den Vernichtungskrieg der Wehrmacht das Land spaltete, in: DIE ZEIT, 25. 6.2009. Vgl.: http://www.zeit.de/2009/27/D-Wehrmachtsausstellung/seite-3 (Stand: 24.11.2015).
[9]Thamer: Tabubruch , S. 171.
[10] Stellvertretend für die Fundamentalopposition: Proske, Rüdiger: Wider den Mißbrauch (sic!) der Geschichte deutscher Soldaten zu politischen Zwecken. Eine Streitschrift. Mainz 1996, S. 2.
[11] Heer, Hannes: Einleitung, in: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.): Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944. Ausstellungskatalog. Hamburg 1996, S. 7.
[12] Aus diesem Grund wird er in dieser Arbeit verwendet.
[13] Vgl.: Reemtsma, Jan Philipp: Was man plant, und was daraus wird. Gedanken über ein prognostisches Versagen, in: Greven, Michael Th; von Wrochem, Oliver: Der Krieg in der Nachkriegszeit. Der Zweite Weltkrieg in Politik und Gesellschaft in der Bundesrepublik. Opladen 2000, S. 274.
[14] Jeismann, Michael: Einübung in die neue Weltbrutalität. Zweimal „Verbrechen der Wehrmacht“:Von der alten zur neuen Bundesrepublik, in: Sabrow, Martin u.a. (Hg.): Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945, S. 233.
[15] Greiner: Bruch-Stücke, S. 62/63.
[16] Vgl.: Musial, Bogdan: Bilder einer Ausstellung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 47 (1999), 4. Heft, Okt. 99, S. 563-591.
[17] Reemtsma: Was man plant, S. 287.
[18]Rürup, Reinhard: Die deutsche Wehrmacht und die NS-Verbrechen: Zur Diskussion um die „Wehrmachtsausstellung“, in: Ders.: Der lange Schatten des Nationalsozialismus. Geschichte, Geschichtspolitik und Erinnerungskultur. Göttingen 2014, S. 198.
[19] Nachrichten aus dem Institut, in: Mittelweg 36, 3/1998, S. 94, u. 4/1999, S. 92.
[20] Ullrich, Volker: Es ist nie zu Ende. Gespräch mit Ulrike Jureit, Jan Philipp Reemtsma und Norbert Frei zum Abschluss der Ausstellung, in: Die ZEIT, 22. Jan 2004. Hier: Norbert Frei. Vgl.: http://www.zeit.de/2004/05/Wehrmacht_/komplettansicht (Stand: 24.11.2015).
[21] Thamer: Tabubruch, S. 172.